Rabbinerpromotionen an der Philosophischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg, 1845-1895
Sachsen-Anhalt figuriert in aktuellen Debatten zumeist als Sorgenkind oder als potentielles Opfer einer Neuordnung der deutschen Bundesländer. Dass das 1990 gegründete "Bindestrichland" mit dem Fürstentum Anhalt, Teilen der preußischen Provinz Sachsen sowie vormals braunschweigischen und thüringischen Territorien Gebiete unterschiedlichster Geschichte in sich vereint, erschwert nicht lediglich die Herausbildung einer regionalen Identität, sondern stellt auch regionalgeschichtliche Forschungsansätze vor besondere Herausforderungen. Die jüdische Geschichte bildet hierbei keine Ausnahme. Obwohl beispielsweise Dessau einen Moses Mendelssohn hervorbrachte und Halberstadt im frühen 18. Jahrhundert eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Mitteleuropas beherbergte, mangelte es bislang an synthetisch angelegten Studien, die das jüdische Leben in der Region jenseits der jeweiligen Territorialgeschichten aufeinander beziehen. [1] Mit dem vorliegenden, insgesamt 14 Beiträge versammelnden Band aus der Feder von Judaisten und Historikern streben die Herausgeber deshalb weniger eine politische als eine "kulturelle Kartographie" (10) des Untersuchungsraumes an. In der Sektion "historische und politische Entwicklungen" führt zunächst Stephan Wendehorst unter Einbeziehung Sachsens und Thüringens in den gegenwärtigen Forschungsstand ein. Einen Schwerpunkt seiner Ausführungen bildet dabei die Frage nach Wechselbeziehungen zur nichtjüdischen Umwelt sowie nach politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Zu Recht weist Wendehorst darauf hin, dass die auf territorialstaatlicher Ebene betriebene Judenpolitik lediglich einen Aspekt jüdischer Lebenswirklichkeit darstellte, die in erheblichem Maße durch Mobilität geprägt war. Beachtung verdient auch der mit Blick auf die Leipziger Messe angebrachte Hinweis auf die Bedeutung von Wirtschaftsräumen, die - gestern wie heute - nur zum Teil politischen Grenzziehungen folgen. Überakzentuiert wirkt demgegenüber die Betonung "imperialer Rahmenbedingungen" (52) jüdischen Lebens in Brandenburg-Preußen während des 18. Jahrhunderts. Zweifellos ist Wendehorst zuzustimmen, dass mit Blick auf Halberstadt der in der Literatur häufig begegnende "summarische Verweis auf eine gesamtpreußische Politik gegenüber den Juden" (52) keineswegs ausreicht, um obrigkeitlich definierte Existenzbedingungen preußischer Juden zu erfassen. Dies gilt, wie hier angefügt sei, umso mehr, als es sich bei jener "gesamtpreußischen" Judenpolitik des 18. Jahrhunderts ohnehin um ein gänzlich quellenfernes Konstrukt handelt. Dass allerdings die künftige Erforschung imperialer Kontexte dazu geeignet sein sollte, das "Territorialisierungsparadigma" (52) für einen Reichsstand vom Gewicht Brandenburg-Preußens grundsätzlich zu erschüttern, wird man bezweifeln dürfen. Kontakte zum Kaiserhof, wie sie einzelne Hofjuden unterhielten, ändern nichts daran, dass die sozial und demografisch relevanten (und gerade im Falle Halberstadts äußerst einschneidenden) Richtlinien der Geleitpolitik in Berlin und Potsdam definiert wurden. Den Betroffenen half kein Kaiser und kein Reich. [2] Leopold III. von Anhalt-Dessau (1740-1817) und seine nach zeitgenössischen Maßstäben aufgeschlossene Haltung gegenüber dem Judentum stehen im Mittelpunkt des anschließenden Beitrages von Erhard Hirsch, der unter anderem auf die Zusammenhänge zwischen der Bildungspolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" sowie innerjüdischen Kultus- und Schulreformen verweist. Auf diesem Feld entwickelte die Dessauer Gemeinde eine bemerkenswerte Dynamik, die sich etwa 1808 in der Einführung deutschsprachiger Predigten äußerte. Gleichwohl stellt sich an manchen Stellen die Frage, ob die Schilderung der "fast unvorstellbar" (79) weit gehenden sozialen Integration der Dessauer Juden nicht etwas zu enthusiastisch ausgefallen ist. Wie belastbar ist beispielsweise die kryptische Aussage, die anhaltischen Fürsten des 18. Jahrhunderts hätten den Juden zwar keine "volle rechtliche Gleichstellung" gewährt, sie jedoch "als gleichberechtigte Untertanen" (73) betrachtet? Der Schutzjudenstatus in Anhalt-Dessau fiel erst im Jahre 1848. Die Sektion "kulturelle und religiöse Strömungen" eröffnet Stefan Litt, der den Untersuchungsraum als Zentrum jüdischen Buchdrucks im 18. und 19. Jahrhundert vorstellt. Besondere Würdigung findet dabei die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in hoher Blüte stehende Druckerei, die der vom Christentum zum Judentum konvertierte Moses ben Abraham in Jeßnitz betrieb und die unter anderem den umstrittenen Mischne Tora des mittelalterlichen Gelehrten Moses Maimonides neu auflegte. An ein weiteres außergewöhnliches Printmedium erinnert Werner Grossert, der mit dem erstmals 1806 in Dessau erschienenen Periodikum "Sulamith" die erste deutschsprachige jüdische Zeitung thematisiert. Die 1728 gegründete pietistische Hallische Judenmission wiederum steht im Mittelpunkt der Beiträge von Giuseppe Veltri und Hanne Trautner-Kortmann. Während Veltri die Darstellung von Juden in den Institutsdiarien als hochgradig topisch charakterisiert, befasst sich Trautner-Kortmann mit jüdischen Reaktionen auf die Arbeit der Missionare, soweit diese aus dem publizierten Schriftgut des Instituts sichtbar werden. Ihrer berechtigten Forderung nach einer verstärkten Auswertung dieses Materials wäre lediglich ein Plädoyer für eine möglichst weitgehende Einbeziehung von Archivgut geistlicher und obrigkeitlicher Provenienz an die Seite zu stellen, um Konversionen in ihren jeweiligen sozialen und ökonomischen Kontext einzubinden. Nachfolgend widmen sich Andreas Gotzmann und Matthias Morgenstern aus biografischer Perspektive den Zerreißproben, denen sich das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert ausgesetzt sah. Gotzmann portraitiert den langjährigen Magdeburger Rabbiner und Gründungsherausgeber der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" Ludwig Philippson (1812-1889), den umstrittenen Exponenten einer um Ausgleich bemühten reformerischen Linie, während Morgenstern mit Esriel Hildesheimer (1820-1899) aus Halberstadt einen der führenden Köpfe der Orthodoxie in den Blick nimmt. In der folgenden, der Universität Halle-Wittenberg gewidmeten Sektion präsentieren zunächst Veltri und Annette Winkelmann eine Edition von Akten der philosophischen Fakultät zu Promotion und Jubiläumspromotion des Begründers der "Wissenschaft des Judentums" Leopold Zunz (1794-1886). Anschließend stellt Carsten Wilke in einem material- und facettenreichen Beitrag Halle als jene deutsche Universität vor, die während des 19. Jahrhunderts die meisten Promotionen angehender Rabbiner aufwies. Moderate Gebühren und der Verzicht auf eine lateinische Disputation erhöhten die Attraktivität der Hochschule, "die zwar den angesehenen preußischen Standards verpflichtet war, diese aber mit Milde anwandte" (272). Ebenso stark war die Anziehungskraft der Universität auf jüdische Studenten aus dem russischen Reich, von denen allein zwischen 1900 und 1914 295 in Halle studierten. Dies ist den Ausführungen von Hartmut Rüdiger Peter zu entnehmen, der zugleich ein aufschlussreiches Bild des regen jüdischen bzw. jüdisch-russischen Vereinslebens zeichnet. Den Abschnitt beschließt ein Beitrag von Veltri, welcher die heutigen Judaica- und Hebraicabestände der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt vorstellt. In der letzten Sektion "Gelehrtenmigration nach Amerika und Israel" rücken schließlich Christian Wiese und Christoph Münz Leben und Werk zweier Rabbiner und Religionsphilosophen in den Mittelpunkt, die den Höhepunkt ihres Schaffens in Übersee erreichten, deren Viten gleichwohl eng mit dem Untersuchungsraum verknüpft sind. Wiese portraitiert den Dessauer Rabbiner Samuel Hirsch (1815-1889), der zunächst in Dessau und Luxemburg wirkte, bevor er in Philadelphia zu einem der führenden Köpfe des amerikanischen Reformjudentums avancierte. Münz zeichnet Entwicklungen in der Philosophie Emil Ludwig Fackenheims (1916-2003), des letzten jüdischen Studenten an der Universität Halle, nach, dessen Denken nach der Shoa primär um eine "(geschichts-)philosophisch und religiös tragfähige Grundlage für eine jüdische Existenz nach und trotz Auschwitz" (416) kreiste. Zusammen genommen bewirkt der bildungs- und kulturgeschichtliche Fokus des vorliegenden Bandes eine starke geografische Konzentration der Beiträge auf die Zentren Halle, Dessau, Halberstadt und Magdeburg. Der altmärkische Norden Sachsen-Anhalts um Stendal tritt dabei ebenso zurück wie der Süden um Naumburg. Dessen ungeachtet präsentieren die Herausgeber eine gelungene Mixtur von historischen und judaistischen Aufsätzen, die zur intellektuellen Konturierung einer bislang nur unzureichend erforschten jüdisch-deutschen Kulturlandschaft in ihren regionalen, nationalen und internationalen Zusammenhängen erheblich beitragen.